In Fürstenberg schiebe ich mein Fahrrad vom Bahnsteig auf die Straße, als mich der Mann von vorhin noch einmal anspricht. Er steht ein wenig verloren auf dem Bahnhofsvorplatz und schaut sich suchend um. Als er mich sieht, freut er sich sichtlich. Wir hatten kurz vor dem Einsteigen in den Zug ein paar Worte gewechselt. Er sieht ratlos in die Runde und fragt: „Wissen Sie, wie man hier ein Taxi bekommen kann? Ich muss zur Gedenkstätte raus.“ Wir stehen im Grunde direkt am Taxistand. Aber kein Taxi weit und breit. Um uns herum werden Ankommende mit ihrem Gepäck begrüßt, Umarmungen, Hallo, Autotüren schwingen auf und klappen zu. Der Platz leert sich innerhalb von Minuten. Der Mann fragt mich, und er klingt dringlich: „Und wissen Sie, wie lange die Buchhandlung der Gedenkstätte geöffnet hat? Ich war ja am Samstag schon dort, aber da hatte sie schon geschlossen.“ Ich weiß, dass die Gedenkstätte des KZ heut bis 15:30 geöffnet hat. Ich werde dort in der Jugendherberge mein Zimmer beziehen und hatte ursprünglich selbst vor, vielleicht schon einen ersten Blick in die Ausstellung zu werfen. Verschob es aber auf die kommenden Tage mit mehr Zeit. Während der Mann weiter redet, dass ihm so wichtig sei, in die Buchhandlung zu kommen, beginne ich andere Passanten nach einer Taxinummer zu fragen. Das Internet will hier nicht funktionieren. Der Mann läuft unterdessen neben mir her. Wie schwerfällig er zu Fuß ist, sehe ich erst jetzt, er ist betagt. Er hat kein Handy, seine Kleidung ist nicht mehr ganz sauber, so als sähen seine Augen die Flecken nicht mehr. Wie aus der Zeit gefallen geht er neben mir, mit seinem Stoffbeutelchen und schaut sich suchend um. „Dort drüben hat am Sonnabend ein Taxi gestanden…“ er zeigt wo, aber auch dort steht heute kein Taxi. Ein anderer Mann schließlich hat die Taxi-Ruf-Nummer ins Handy eingespeichert. Der Taxiunternehmer ist anderswo unterwegs und hat keine Zeit. Auf meine Frage, ob es andere Taxiunternehmen in Fürstenberg gibt, sagt er, „Das müssen Sie googeln.“ und legt auf. Es ist bereits nach halb drei. Ich rufe in der Gedenkstätte an und erfahre, die Buchhandlung habe bis 16 Uhr geöffnet. Mit dem googeln wird das nichts. Weit und breit ist kein Internet zu finden. Ein Mädchen bestätigt mir, mit dem Internetempfang sei es in Fürstenberg schlecht bestellt. Ein Schild sagt, 2,5 Kilometer seien es bis zur Gedenkstätte Ravensbrück. Mir schien der Weg neulich weiter. Aber, es wäre zu schaffen, wäre der Mann gut zu Fuß. „Sehen Sie mal, sagt er, und zieht aus seinem Stoffbeutelchen ein dickes Buch, das reichlich gelesen ist. Corrie ten Boom, steht auf dem Einband, „Die Zuflucht“. Der Mann zeigt aufgeregt auf das Buch: „Sie war die erste Uhrmacherin in Holland. Sie hat Juden vor den Nazis versteckt. Ist dann denunziert worden und hat Ravensbrück überlebt. Wissen Sie, solche mutigen Menschen wie diese Frau gab es viele. Und ich möchte von solchen Menschen viel mehr erfahren!“ Dringlich ist es ihm. „Es gab da ein Buch in der Gedenkstätte, das will ich unbedingt auch noch lesen.“ Aber ich kann ihm nicht helfen. Er will zum Markt und dort nach einem Bus fragen als ein Rollstuhl-Taxi neben uns hält. Der alte Mann liest nur „Taxi“ und redet auf den Fahrer ein, ob der ihn nicht zur Gedenkstätte Ravensbrück fahren könne. „Sie haben mich doch am Sonnabend schon gefragt.“ sagt der Fahrer, etwas unwirsch. „Ich kann ihnen auch heute nur sagen, ich bin kein Taxi, ich mache Krankenfahrten.“ Aber der Mann zeigt verständnislos auf die „Taxi“-Aufschrift. Ich rufe noch einmal in der Gedenkstätte an und frage, ob denn heute noch ein Bus raus fährt. Nein, Busse fahren jetzt nicht. Nur ein Rufbus, den muss man aber 90 Minuten vorher bestellen. Es geht auf drei. Zu spät für den Mann und sein Buch. Er ist inzwischen eilig Richtung Marktplatz gelaufen. Ich hole ihn mit meinem Rad ein und muss ihm sagen, dass es keinen Bus gibt. „Ich versuche es trotzdem“, sagt er. Ratlos verabschiede ich mich, fahre ich weiter, radle langsam durch die Innenstadt, mache hier und da Fotos. Am Netto-Markt sehe ich den Mann wieder. Er spricht Autofahrer auf dem Parkplatz an. Mutig ist er, denke ich, zu Corona-Zeiten auf Mitnahme zu hoffen. Ich bin vor der Pandemie selbst oft getrampt. Aber jetzt…ich sehe prompt, wie der alte Mann mit Kopfschütteln beantwortet wird. Ich mache noch ein Foto vom Markt. Und da fällt mir ein, dass ich dem Mann anbieten könnte, mit dem Rad voraus zu fahren, das Buch für ihn zu kaufen und es ihm zu bringen. Dann brauchte er nicht den weiten Weg zu Fuß… warum ich auf solche Ideen immer erst so spät komme! Ich schaue mich um, sehe den Mann aber nicht mehr. Mache mich auf den Weg nach Ravensbrück. Hoffe, den Mann zu treffen. Aber er ist fort. Als ich an der Gedenkstätte ankomme, macht die Buchhandlung gerade ihre Pforten dicht. „Wenn Sie noch schnell einen Blick rein werfen wollen…- ein paar Minuten habe ich noch geöffnet.“ sagt die Frau am Eingang. Nein, ich frage nur nach dem alten Mann. Die Frau lacht warmherzig. „Ja, er war schon hier und hat einige Bücher gekauft. Stellen Sie sich vor, er hat tatsächlich jemanden gefunden, der ihn im Auto mitgenommen hat. Jetzt ist er noch in die Ausstellung gegangen, die hat ja noch eine halbe Stunde geöffnet.“ Der eine Satz des Mannes klingt lange in mir nach: „Ich möchte von solchen Menschen viel mehr erfahren!.“